Wirklichkeit, Wesen und Wahrheit



"Ist das wirklich wahr?" lautet eine Frage, die zumeist gestellt wird, wenn der Wahrheitsgehalt einer Schilderung bezweifelt wird. Wenn es dann heißen sollte: "Im Wesenskern schon!" , so ist die Neigung zu verspüren, den Wahrheitsgehalt zu bezweifeln.
Der Kommunikation untereinander haftet die Unvollständigkeit an, daß die Wirklichkeit nicht voll erfaßt werden kann. Die Einwendung, eine mathematische Formel eine genaue Beschreibung geben kann, lasse ich nicht gelten, da ein Zahlengebilde, selbst wenn es auf dem Computer dargestellt wird, nicht die selbe Ästhetik oder Lebendigkeit besitzt wie zum Beispiel eine Blume, ein Tisch oder ein Hund.
So mancher Zweifel an der Wirklichkeit einer Blume, eines Tisches oder Hundes ist unberechtigt. Der Zweifel ist erwachsen aus den unvollständigen Beschreibungen. Die Wirklichkeit ist dennoch vorhanden. Sie ist auch dann vorhanden, wenn der Mensch sie nicht beschreibt.

Wenn Rene Descartes im 17. Jahrhundert sein Denken auf "Cogito ergo sum" begründet, so irrt er. Die Wirklichkeit bedarf der Aussage nicht. Selbst wenn er die Wirklichkeit nicht erkennt, wird er sein.
Für den Menschen macht es zwar einen erheblichen Unterschied, ob er erkennt oder nicht, aber sein "ich bin" kann unabhängig davon sein. Zum Beispiel wenn ich Ausländer bin, bin ich das unabhängig von einem Beweis. Solange ich mit Denken versuche zu erkennen, ob ich Ausländer bin oder nicht, werde ich sogar große Schwierigkeiten haben, dieses festzustellen. Wenn ich zu dem Schluß komme, da ich für mein Ausländersein keinen Beweis finden werde, daß ich kein Ausländer bin und nach diesem Entschluß zur Bundestagswahl gehe, wird mir dann dort bewiesen werden, daß ich Ausländer bin.
Ich würde nicht wählen dürfen. Die Wirklichkeit des Ausländerseins war aber schon vorher vorhanden, unabhängig davon ob ich sie nun erkannt habe oder nicht. Da ich schon an einer Bundestagswahl teilgenommen habe, scheine ich kein Ausländer zu sein. So ist eine Existenz auch unabhängig von seiner Beweisbarkeit gegeben. Die Wirklichkeit ist vorhanden.
Schrödingers Katze gefällt mir, weil ich Paradoxen liebe, doch hat das Experiment mit der vorstellbaren Wirklichkeit ein Problem. Weil es nicht beweisbar ist, ob die Katze tot oder lebendig ist, es sei denn ich blicke in die geschlossene Versuchsanordnung, spricht man von der tot-lebendigen Katze. Mit der Schrödingerkatze geht man soweit, zu sagen der Experimentator bestimmt durch sein Eingreifen den Ausgang des Experiments. Er beeinfluße dahin das Experiment die Katze sei tot oder lebendig. Der Effekt der Teilchenbeobachtung scheint tatsächlich diese Annahme zu bestätigen. Der Mensch, der den Versuch durchführt, mag für den Ausgang des Versuch mitverantwortlich sein, aber heißt es noch nicht, daß die tatsächliche Wirklichkeit dem festgestellten Ergebniss wirklich entspricht.
Die Entdeckung des Penicilins wäre nicht erfolgt, wenn der Entdecker nicht die Wirklichkeit berücksichtigt hätte. Entscheidend ist nicht die Wirklichkeit an sich gewesen, sonder der Umgang mit der tatsächlich vorhanden Wirklichkeit und die ärgerliche Verunreinigung als Heilmittel zu erkennen. Es ist die Erkenntnis über die vorhandene Wirklichkeit, die dann die menschliche Wirklichkeit verändert. Das Sein dieser Wirklichkeit ist unabhängig von dieser Erkenntnis vorhanden. Die Wirklichkeit an sich ist eben nicht statisch sondern dynamisch und das unabhängig vom Wirken des Menschen. Durch das Aussterben der Saurier mag der Platz für die Säugetiere geschaffen worden sein, der den Menschen schließlich ermöglichte, doch ändert sich diese Wirklichkeit nicht dadurch, daß der Mensch sie erkennt.
So sehr es auch notwendig war sich von der scholastischen Tradition abzuwenden und ein rein-analytisches Denken zu begründen, um im Erkenntnisprozeß fortschreiten zu können, so sehr ist es aber heute notwendig aus diesem rein-analytischen Denken keinen Gott zu machen, der alles erklären könnte. So mancher Ingenieur, der eine Brücke oder Maschine berechnet, weiß doch gar nicht, daß das Gebäude der Mathematik auf Grundannahmen steht, welche nichts anderes als Glaubenssätze sind. Bei manchem Ingenieur wird aufgrund seiner Erfahrung mit seiner Wirklichkeit diese Mathematik zur Wirklichkeit.
In heutiger Zeit regt man sich gerne über die Inquisition im Mittelalter auf, ohne dabei zu Bedenken wie wir eine ähnliche Inquisition aufbauen. Es ist zwar noch nicht soweit, daß wir Hexenverbrennungen auf dem Altar der Wissenschaftlichkeit durchführen, obwohl ich mir da gar nicht sicher bin. Wenn jemand in den USA oder sonstwo aufgrund von Indizienbeweisen zum Tode verurteilt wird und schließlich hingerichtet wird, dann kann man auch von einer Opferung auf dem Altar der rein-analytischen Beweise reden.
Manche mathematischen begründeten Beweise sind so intelligent wie "Man kann nicht fliegen, weil man nicht fliegen kann." Zahlen, Daten und Fakten prägen die heutige menschliche Wirklichkeit manchmal mehr als die Wirklichkeit selbst.
Der Gewinn eines Unternehmen in der Volkswirtschaft bzw. Betriebswirtschaft ist eine solche magische Zahl. Rationale oder vernünftige Argumente zählen weniger als die mit nackten Zahlen begründete Notwendigkeit. Der einzelne Gewinn steht über dem ethischen Gewinn, wenn er denn nur groß genug ist. Der gemeinschaftliche Verlust in der Wirklichkeit spielt keine Rolle, wenn der Verlust in Zahlen nicht meßbar ist. Die Erkenntnis von Wirklichkeit ist dann gering, wenn wir uns durch Zahlen, Daten und Fakten blenden lassen. Was ist Wirklichkeit? Die Daten, Fakten und Zahlen sind nicht die Wirklichkeit. Die bekannten Daten, Fakten und Zahlen sind nur eine mögliche Beschreibung der bekannten Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist vorhanden Die Mathematik kann sie nur eventuell nicht beschreiben.
Ein solches Beschreibungsproblem mag die Zahl Π (pi) sein. Ich stelle gerade fest, als ich meine Handschrift in das digitale Schriftgut übersetze, daß es ein Beschreibungsproblem auch in anderer Hinsicht ist. µ ist in der Textverarbeitung, die ich benutze leichter zu schreiben, als die Zahl Pi, die ich meine. Die Zahl Pi ist gar nicht so irrational, wie sie sich auf den ersten Blick darstellt. Doch ist sie in unserem System der Mathematik irrational. Der Mensch versucht nur mit dem Kreisdurchmesser den Umfang zu beschreiben oder mit dem Kreisumfang den Durchmesser. Die Mathematik schafft es nicht für beides gleichzeitig im ganzzahligen System Werte anzugeben, die uns behagen.
Die Frage wäre ob es in der Wirklichkeit einen Kreis geben kann, dessen Umfang und dessen Durchmesser in einem Maß gemessen werden, deren Ergebnis zueinander ganzzahlig sind? Vorschnell könnte man sagen, daß einen solchen Kreis in der Wirklichkeit nicht gibt, aber stimmt das auch?
Obwohl ich nicht viel davon verstehe, betrachte ich mir hypothetisch einen Kreis im Raum, der zufällig an den Durchmesserenden ein Wurmloch Ein- bzw. Ausgang hat. Wie ist es mit dem Durchmesser eines solchen Kreises? Es ist wie mit dem wie mit dem Dreieck dessen Winkelsumme über 180 Grad beträgt. Ein flächenorientierter schulgebildeter Menschen widerspricht, der Aussage, daß ein Dreieck eine Winkelsumme über 180 Grad haben könnte. Ein entsprechend auf der Erdkugel dimensioniertes Dreieck hat aber eine Winkelsumme über 180 Grad.
Es ist nicht die Wirklichkeit, die solchen Aussagen widerspricht, es ist meist der Mensch mit seinem mangelndem Vorstellungsvermögen oder Verständnis. Es scheint mir manchmal mehr der Widerspruch des Menschen gegen die Wirklichkeit, der es mancher Idee so schwer macht, in der menschlichen Wirklichkeit Fuß zu fassen. Eine erste Reaktion auf diesen Text außerhalb meines direkten persönlichen Umfeldes war: "Warum Warheit und nicht Wahrheiten?" Die Wirklichkeit wider spricht einer Wahrheit nicht und es nicht meine Wahrheit und nicht die allgemeinen Wahrheiten, die ich hier zum Ausdruck bringen will, doch mag der Mensch den Gedanken einer Wahrheit nicht. Erstens aus verständlichen Gründen, weil eine alleinselig machende Wahrheit zu gern von anderen Menschen mißbraucht wird und somit jeder der von nur einer Wahrheit redet sowieso skeptisch betrachtet werden muß, und zweitens, weil gerne die eigene persönliche Wahrheit und Meinung mit der Wahrheit verwechselt wird. Die Meinung des einzelnen Menschen kann dabei durchaus wahr sein im Sinne der allgemein gelehrten Wahrheitslogik, doch ist der Umkehrschluß es gäbe keine Wahrheit für meine Begriffe falsch. Die einzelnen Lehrsätze zur Feststellbarkeit der Wahrheit, klammern sich schließlich an diesen Streit der Meinungen, ohne sich mit dem Wesenskern der Wahrheit zu beschäftigen. Diese Sophistik mag einer von vielen Gründen für den Niedergang der Philosophie als Wissenschaft sein. Das sich keiner mehr an die Philosophie wendet, wenn sie nur noch komplexe Schildkrötenantworten , abgibt ist verständlich.
Die Mathematik und die ihnen angegliederten Naturwissenschaften funktionieren hervorragend, weil die Mathematik Grundsätze postuliert. So beträgt auf einer Fläche die Winkelsumme eines Dreiecks eben tatsächlich 180 Grad. Die Mathematik behauptet nicht, es könnte kein Dreieck mit einer Winkelsumme über 180 Grad geben, nur so mancher Schullehrer mag die Fläche für nicht erwähnenswert halten, weil das die Sache nur komplexer macht und so manchem Lernziel entgegensteht. Die Mathematik ist eine sehr pragmatische Wissenschaft und steht auf solidem Grund, wenn man nicht zu tief schürft, den dann stößt man auf philosophische Probleme, doch die betrachtet man in der Mathematik auch nicht als Gegenstand. Das mit der Winkelsumme mag nur als Beispiel dienen und jeder Mathematiker mag es auch als lächerlich empfinden, da er sich dieses Problem der Definition genau bewußt ist, der Physiker kennt die Bedingungen der Wirklichkeit besser und paßt im Zweifelsfall die Mathematik der Wirklichkeit an. Mit an gewissen Bedingungen geknüpften Wahrheiten zu arbeiten, ist mit verblüffenden Erfolgen gesegnet. Die Geisteswissenschaften stehen dem hilflos gegenüber. Jedes Postulat wird im Streit der Meinungen verwässert und selbst wenn man denn schließlich ein Postulat aufstellt, ist es meistens falsch. Die pragmatische Betriebswissenschaft mag gerade deswegen so gerne Formeln und Berechnungen, weil sie damit wenigstens irgendwas an der Hand hat. Selbst wenn dann schließlich der Selbstmord mathematisch rational begründet wird und dafür irgendjemand den Nobelpreis bekommt, dann ist es dennoch ein Blödsinn. Doch selbst wenn es offensichtlicher Blödsinn ist, zerbrechen sich intelligente Menschen darüber den Kopf.
Traurig daran ist nur, daß diese Intelligenz vergeudet wird. Ein schönes Argument ist manchmal, wenn ein so intelligenter Mann das sagt, dann wird es schon stimmen. Nach dieser Logik ist die Hexenverbrennung richtig und gut - wäää. Mag auch das ein Problem der Geisteswissenschaften sein, daß das Eingeständnis, das alles falsch ist, nicht möglich ist, weil man damit die Lebensleistung eines Menschen über den Haufen werfen müßte. Die Wirklichkeit ist hartnäckiger. Etwas Falsches wird dadurch nicht Richtiger. Die Behauptung kein Fluggerät bauen zu können, wird nicht wahr dadurch, daß es noch keiner geschafft hat. Börsenanalysen werden nicht gut, weil sie auf der Basis von komplexen Formeln stehen. Ein Guru mit dem richtigen Handwerkszeug kann in der heutigen Zeit noch genauso leicht Geld verdienen, wie Casanova mit magischen Künsten zu seiner Zeit. Wenn er Glück hat fliegt er nicht einmal als Betrüger auf. Die Wirklichkeit stellt sich mit ihrem Wesen gegen diese Leichtfertigkeit des Betruges. Unerbittlich bleibt sie trotz unserem Fortschritts einfach vorhanden. Außerhalb der erkannten Wirklichkeit ist eine vorhandene Wirklichkeit, die sich nicht so einfach in Formeln pressen läßt. Die darin enthaltene Wahrheit ist vorhanden und läßt sich auch erkennen, denn wir haben schon bewiesen, daß wir ein Fluggerät bauen können. Vor tausend Jahren mag jemand, der sagte man könne ein Fluggerät bauen, als Spinner gelten, doch er hatte recht. Wenn heute jemand Gefühle, Emotionen und Geisteshaltungen und Magie in die Waagschale wirft, dann ist er sicherlich als Spinner klassifiziert. Sicherlich ist er es auch deswegen, weil eine Sortierung zwischen fundiert und unfundiert, gar nicht mehr richtig stattfindet und auf einen mit einer Aussage wie das Fluggerät, tausend kommen die irgendwelchen Blödsinn erzählen. Wir haben durch die Abschaffung der Anerkennung der Philosophie als ernsthafte Wissenschaft ein Problem, dessen wir uns gar nicht bewußt sind. Wir wissen gar nicht wie wichtig, die Suche nach der Wahrheit ist.
Ein wenig mag das mit den Staatsrechtler vergleichbar sein, die keinen Anhalt für Pflichten im Grundgesetz finden, der aber offensichtlich wohl vorhanden ist. Je mehr ich mich mit verschieden Wissenschaften auseinandersetze, desto mehr stelle ich fest, wie wenig in der Spitze noch vernünftig gedacht wird. Jeder Spitzenprofessor in seinem Fach ist der König, der in seinem Fachdenken weiterwurschtelt. Die philosophischen Wissenschaftler sind da fast noch besser, als ihre Fachkollegen. Die Wahrheit ist nur noch ein Gegenstand der Sophistik eher findet man noch einen Theologen der auf der Suche nach einer Definition nach Gott mit der Wahrheit mehr auseinandersetzt als einen Philosophen. Der Physiker an den Grenzen seines Weltbildes angelangt, schreit regelrecht nach einer Philosophie, die ihm weiterhilft, und weil da draußen keiner ist, wird er notgedrungen zum Hobbyphilosophen.

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