Berlin, 2030. In einer am Dienstagmorgen überraschend einberufenen Pressekonferenz hat die neue Bundesregierung eine „Nationale Versöhnungsamnestie“ angekündigt. Sie soll „einen Schlussstrich unter die politische Polarisierung der letzten Jahre ziehen und eine neue Ära des Zusammenhalts einläuten.“
Zu den prominentesten Begünstigten der Amnestie zählt die Aktivistin Marla-Svenja Liebich. Die 59-Jährige, die sich selbst als Kämpferin gegen das „verrottete System“ sieht, wurde in den vergangenen Jahren in über zwanzig Fällen wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Nötigung verurteilt. Die Strafen reichten von Geldstrafen bis zu mehrfachen Haftstrafen, die jedoch nie angetreten wurden, da Liebich sich den Behörden stets entzog. Nach einer spektakulären Flucht über die tschechische Grenze im Jahr 2025 lebte sie bis vor Kurzem im Ausland. Ihr kürzlich vollzogener Geschlechtseintrag wurde in der Szene als letzte Provokation des „alten Regimes“ interpretiert, bevor der „neue Staat“ die Macht übernahm.
Mit der Amnestie werden nun alle unanfechtbaren Strafen, die aus politisch motivierten Äußerungen und Handlungen der vergangenen zehn Jahre resultieren, offiziell aufgehoben. Die Bundesregierung nannte die Begnadigung einen „Akt der nationalen Einheit“, der es ermöglichen soll, „sich von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien.“
Die Reaktionen sind heftig. Die Opposition spricht von einem „Sieg der Straflosigkeit über den Rechtsstaat“. Für viele Menschen, die sich jahrelang für Demokratie und Zivilgesellschaft eingesetzt hatten, ist die Amnestie ein Schlag ins Gesicht. Das Gefühl, dass das „alte System“ nicht in der Lage war, Personen wie Liebich zur Rechenschaft zu ziehen, wird nun durch einen staatlichen Akt der Begnadigung bestätigt und legitimiert.
Für die Doofen
Diese Geschichte über das Jahr 2030 ist eine fast exakte Spiegelung der rechtlichen und politischen Entwicklungen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933.
Das Beispiel von Marla-Svenja Liebich, die ihre Haftstrafen nicht antreten muss und amnestiert wird, findet seine historische Entsprechung im Fall des Journalisten Thein, der 1938 von einer „Führeramnestie“ für ein politisches Delikt begnadigt wurde. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs.
Die NSDAP nutzte in den frühen Jahren ihrer Herrschaft zahlreiche „Gnadenerlasse“, um Anhänger, die in der Weimarer Republik wegen Propagandavergehen, Beleidigungen oder kleinerer politischer Straftaten verurteilt worden waren, nachträglich zu begnadigen. Das Ziel war nicht nur, die eigene Basis zu belohnen, sondern auch, der Bevölkerung zu signalisieren, dass ein neues, „gerechteres“ Rechtssystem galt, in dem die Taten der „Volkskämpfer“ nicht mehr als Unrecht betrachtet wurden.
Der Fall von Tillessen und Schulz, die 1921 den damaligen Finanzminister Matthias Erzberger ermordeten und ins Ausland flüchteten, zeigt eine noch extremere Form der Straflosigkeit. Sie lebten jahrelang unbehelligt, weil Ungarn eine Auslieferung ablehnte – ein Zeichen der fehlenden internationalen Kooperation gegen den Rechtsterrorismus. Als Tillessen 1933 nach Deutschland zurückkehrte, wurde er nicht nur nicht verhaftet, sondern wie ein Held gefeiert.
Beide Fälle verdeutlichen, wie ein Staat, der seine demokratische und rechtsstaatliche Verfassung aufgibt, nicht nur die Gesetze für die Zukunft ändert, sondern auch die Vergangenheit umschreibt und die Verbrechen seiner politischen Verbündeten nachträglich als rechtmäßig erklärt.