Geist und Erscheinung,
Wirklichkeit und Erfahrung





Die menschliche Erfahrung wird geprägt durch die Wirklichkeit. Der Geist wird geprägt durch die Erscheinung.

In meiner Erfahrung ist eine Prägung durch die Wirklichkeit mich der Lächerlichkeit preis zu geben. Während ich diese Worte schreibe werde ich gefragt, was ich schreibe. Die Vermutungen reichen vom Roman bis zum Tagebuch. Wohlwissend, daß es nicht verstanden wird, nenne ich meine Wahrheit. Die Reaktion ist verhaltener Spott. In Zukunft werde ich damit leben müssen spöttisch als Philosoph bezeichnet zu werden. Ich erscheine den Mitmenschen in diesem Umfeld nicht als Philosoph.
Eine andere Erfahrung ist, daß ich mich im handschriftlichen Manuskript gerade auf Seite dreizehn befinde.
Die Wirklichkeit besagt nicht, daß das Aufgeschriebene deswegen schlechter sein muß, aber eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, könnte genau diese Seite schlechter gemacht haben. Selbst wenn es genügend Menschen gibt, de damit besser umgehen können, bleibt mir doch in meinem Denken eine Skepsis. Nun wird meine Wirklichkeit geprägt durch die Erfahrung. Wie eng die menschliche Wirklichkeit und die menschliche Erfahrung in Wechselwirkung stehen, zeigt die Geschichte.
Es wäre schön, wenn wir einen schlechten vergessenen Kunstmaler in der österreichischen Geschichte hätten statt den zweiten Weltkrieg und den Holocaust.
Wie groß der Unterschied zwischen Geist und Erscheinung ist verdeutlicht diese Geschichte leider zu gut. Die anfängliche Erscheinung Hitlers als Retter Deutschlands steht im krassen Gegensatz zu dem tatsächlichen Geist Hitlers und seiner NSDAP zum Vernichter und Massenmörder. 1936 mag für viele Deutsche das Phänomen Hitler als Retter vorhanden gewesen sein, aber das Wesen eines Retters war nicht da.
Für die Wirklichkeit ist letztendlich der Geist, der sich dahinter verbirgt, entscheidender als das Phänomen.

Mir schmeckt nicht, daß ich diesen Gedanken ausgerechnet an dem Beispiel Hitler unterbreitet habe. Ich versuche deshalb noch ein anderes Beispiel. Eine Verfassung eines Staates erscheint in ihren Worten. Anhand der beiden deutschen Staaten und ihres Konkurrenzkampfes und ihrer speziellen Beziehung zueinander, mag es manchen überraschen, daß die Verfassungen der DDR und der BRD so unterschiedlich in ihren Worten gar nicht waren. Der wesentliche Unterschied beider Verfassungen ist in dem Geist zu suchen.
Dieser Geist läßt sich auch heute noch benennen. Nachdem in der sowjetischen Besatzungszone die Parteien gleichgeschaltet waren, wurde am 6.12.1947 der 1. Deutsche Volkskongreß und am 18.03.1948 der 2. Volkskongreß aus Delegierten der Parteien gebildet. Dieser ernannte den Deutschen Volksrat und entwarf eine Verfassung. Der Volkskongreß nahm am 30.05.1949 den Entwurf einer Verfassung an, die am 7.10.1949 in Kraft trat und somit zur Deutschen Demokratischen Republik führte.
In dem von den Westmächten beherrschten Gebiet beschlossen diese unter Beteiligung der Beneluxstaaten und gegen den Widerstand der Sowjetunion im Frühjahr 1948 ein staatsrechtliches Provisorium für West-Deutschland zu schaffen. Am 1.07.1948 wurden wurden die Ministerpräsidenten der 11 Länder beauftragt, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die eine Verfassung mit föderativer Regierungsform ausarbeiten sollte. Auf der Bodenseekonferenz entwarfen Sachverständige den Herrenchiemseer Entwurf.
Die 11 Landtage wählten auf Grund des gemeinsamen Wahlgesetzes vom 26.07.1948 den Parlamentarischen Rat. Er trat am 1.09.1948 in Bonn als vorläufiger Hauptstadt zusammen. Nach wiederholtem Eingreifen der Militärbefehlshaber nahm der Parlamentarische Rat am 08.05.1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland an. Es trat am 24.05.1949 in Kraft, nachdem die Militärbefehlshaber der Westmächte am 12.05.1949 ihre Zustimmung unter Vorbehalt erklärt hatten. 4
Der Geist der einen Verfassung ist beseelt durch den Volksrat der späteren Deutschen Demokratischen Republik und der Schein betont Volk und Demokratie. Der Geist der anderen Verfassung ist beseelt durch die Bodenseekonferenz, der Diskussion mit den Westmächten, Debatten unter den Ländern und dem Endpunkt die Verfassung nicht als Verfassung sondern als Grundgesetz zu beschließen. Im Staatsnamen und im Parlamentarischen Rat taucht weder das Wort Demokratie noch in der Versammlung das Wort Volk auf.

Die Verfassungen treten in der Wirklichkeit mit den Worten in Erscheinung. Ihr Geist zeigt sich in der geschichtlichen Erfahrung.

Wie wichtig der dahinterstehende Geist ist, verdeutlicht das Grundgesetz der BRD auch in einer anderen Hinsicht in der heutigen Zeit. Es wird in der Gesellschaft viel über die Rechte der Bürger gesprochen. Es ist viel von Selbstverwirklichung und von Individualität die Rede. Es wird stark die Pflicht des Staates betont. Der Staat soll nach der weitverbreitenden Ansicht für die Verwirklichung dieser Rechte sorgen. Der Staat wird in die Pflicht genommen mit der Sozialhilfe den schwachen Bürgern zu helfen. Der Bürger hat das Recht auf seiner Seite. Es scheint in diesem Grundgesetz nur wenige Pflichten für den Bürger wie zum Beispiel die Wehrpflicht zu geben. In den Worten des Grundgesetzes erscheinen ein Recht oder die Rechte aber nicht die Pflichten. Doch daraus zu schließen, daß im Geiste des am Bodensee verfaßten Grundgesetzes keine Pflichten vorhanden wären, halte ich für falsch. Es geht schon damit los, daß die Ministerpräsidenten in die Pflicht genommen wurden eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Die Menschen, die sicch an die Arbeit gemacht haben, eine Verfassung für Deutschland nach dieser Vergangenheit zu schreiben, gingen mit den Worten sehr vorsichtig um. Die Nazis hatten alles und jedes in die Pflicht genommen. Die Mutter hatte die Pflicht anständige Deutsche zu gebären und zu erziehen. Der Vater hatte Pflicht für den Führer in den Krieg zu ziehen. "Es ist die Pflicht eines jeden Deutschen" hieß es bei den Nazis überall. Die Gründungsväter hatten nur zu gut die Verdrehung der Worte im Sinn. Sei nur als Beispiel genannt, was am Reinigen so verkehrt sein soll. Doch eine Aussage wie "Säuberung der deutschen Rasse"! Worte sind für die Gründungsväter keine einfache Sache gewesen. Diese Gründungsväter wurden aber in einer Tradition erzogen, in denen ihnen Pflicht als etwas selbstverständliches erschien.
Nichtmal 50 Jahre vorher gab es noch die Kaisertreue und preußische Dienstpflichten. Sollten diese Menschen die Pflicht des einzelnen im Staate für nicht wichtig geachtet haben? Ich glaube nicht, sie dachten nur nicht daran, daß der einzelne Bürger eines Tages nur noch auf seine Rechte pochen würde und seine Pflichten vergessen würde. Für diese Menschen war Pflicht etwas selbstverständliches, daß so explizit doch nicht erwähnt werden müßte. Wenn ich mir die heutige Entwicklung in der Gesellschaft anschaue, befürchte ich, daß sie sich getäuscht haben. Mir wurde von einer Freundin gesagt, daß die Staatsrechtler mit den Pflichten größte Probleme hätten, da sie Pflichten im Grundgesetz nicht fänden. Im Geist des Grundgesetzes sehe zumindest ich die Pflicht des Bürgers vorhanden. In der Erscheinung der Worte mag da ein Problem sein. Doch die Menschenrechte standen auch in der Verfassung der DDR, doch hat sich der Geist der Verfassung der DDR um die Menschenrechte wenig gekümmert. Die Erscheinung ist nicht die Wahrheit. Ob die Wirklichkeit durch die Erscheinung oder den Geist bestimmt wird, erfahren wir in der Wirklichkeit. Ob hinter einem Phänomen ein wahrer Geist stand, lehrt uns die Erfahrung leider manchmal zu spät. Doch sollten wir Menschen nicht so dumm sein, daß wir aus unseren Erfahrung nicht lernen und zwischen Sein oder Schein trennen können.

Unter Geist verstehe ich etwas Vorhandenes, wohingegen die Erscheinung ein Phänomen ist, daß der Deutung bedarf und möglicherweise das Gegenteil in Wirklichkeit und Erfahrung ist. Obwohl in der Erscheinung des Grundgesetzes die Bürgerpflichten unterrepräsentiert sind, können die Pflichten in Wirklichkeit dem Geiste nach sehr wohl vorhanden sein. Obwohl Hitler als Retter Deutschlands seinen damaligen Wählern erschienen sein mag, ist er dennoch das genau Gegenteil gewesen. Erfahrung kann uns lehren Geist und Erscheinung voneinander zu trennen und dadurch die Wirklichkeit zu erkennen. Die Wirklichkeit sagt mir, daß ich seit über einer Woche hier keine Zeile mehr geschrieben habe. Ich habe mit diesem Text immer wieder Schwierigkeiten und befürchte mangelnden Geist. Das, was ich ausdrücken will, scheint immer noch nicht greifbar. Meine Worte erscheinen als alt und längst bekannt. Doch bemühe ich mich nach bestem Wissen und Gewissen das Neue auszudrücken, dem Gedanken in die Wirklichkeit zu verhelfen.

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